Montag, 4. August 2014



Was ist Wahrheit?

Konstruktivismus und Qualitätsmanagement

erschienen in der QZ-Ausgabe 8/2014 des Hanser Verlages, http://bit.ly/1nn4UiU

Mit dieser Frage befinden wir uns nicht nur im Zentrum der Philosophie, sondern auch in der täglich erlebten Wirklichkeit. Wer Verantwortung für Prozesse und Ergebnisse trägt, kommt um die Frage nach Wahrheit nicht herum. Und er wird vielleicht erfahren, dass Wahrheit letztlich im Diskurs entsteht.



Marcus Schorn, ist Gründer und Entwicklungsvorstand des Softwareunternehmens Plato AG, Lübeck. Er studierte Informatik an der Universität Hamburg mit Schwerpunkt künstliche Intelligenz. Ferner bildete er sich weiter als Coach und Psychotherapeut und gestaltet seit über zehn Jahren industrielle Arbeitskreise zum Thema Organisationsentwicklung. Hierbei bewegen sich die Diskussionen in den Spannungsfeldern: Strategie und Qualität, Philosophie und Werte, Technologie und Mensch.


Der Philosoph Odo Marquart hat das Problem mit der Wahrheit in den 70er-Jahren als "Inkompetenzkompensationskompetenz" bezeichnet und damit das Ende der Philosophie proklamiert. Diese habe alle Kompetenz an die Spezialdisziplinen verloren und könne selber bestenfalls noch Rhetorik liefern.
So radikal sieht man das heute nicht mehr, denn gerade die Naturwissenschaften erkennen mehr und mehr, dass sich Wirklichkeit nicht als eine singuläre, alleingültige Wahrheit beschreiben lässt. Vermutlich hat jeder Mensch die Frage "Was ist Wahrheit?" in irgendeiner Form für sich selbst beantwortet. Viel pragmatischer ist daher die Frage "Wie finde ich einen Weg durch den Dschungel der unterschiedlichen Wahrheiten?". Wer Entscheidungen fällt, muss hier einen Pfad für sich finden. Einfacher und der Disziplin des Qualitätsmanagements angemessener erscheint die Frage "Welcher Information kann ich vertrauen?".
Eine Antwort, die Platon schon vor über 2 000 Jahren gegeben hat, lautet: "Gestalte den Dialog!" Er hat den Dialog auch als literarische Form für die Darstellung seiner Philosophie gewählt und damit gleichzeitig eine der ersten Qualitätsmethoden entwickelt: "Wahrheit findet sich am besten, wenn wir im Dialog mit unterschiedlichen Aspekten und Meinungen stehen."

Ist Wahrheit die Erfindung eines Lügners?

Heinz von Förster – Physiker, Kybernetiker und Philosoph – wendet sich radikal vom Wahrheitsbegriff ab [1]. Er ist ein vehementer Vertreter des Konstruktivismus. Wahrheit ist demnach nicht das Ergebnis eines Abbilds im Sinne eines Entdeckens der objektiv vorliegenden Wirklichkeit, sondern das Ergebnis eines Erfindens der Wirklichkeit.
Von Försters Sichtweise kann vereinfacht so zusammengefasst werden: Wahrheit gibt es nicht, denn die Wirklichkeit ist ein Konstrukt aus vielen unterschiedlichen Sichten, Meinungen, Gewohnheiten und kulturellen sowie genetischen Dispositionen. Im weitesten Sinne ist Wirklichkeit das Werk eines tief in uns eingebauten Wirklichkeits-Schaffungs-Algorithmus. Aus dieser Perspektive entlarvt von Förster das Proklamieren einer einzigen Wahrheit als ein fadenscheiniges Mittel, andere zu Lügnern zu stempeln. So lassen sich eigene Interessen leichter durchsetzen.
In der Tat hat sich der Wunsch nach der Verfügbarkeit einer einzigen Wahrheit häufig als verhängnisvoll erwiesen. Diese Lektion lehren zahlreiche Fälle, wo aus einer vermeintlichen Sicherheit heraus wichtige Veränderungen nicht erkannt wurden. Aus diesem Grund entwickeln erfolgreiche Unternehmen Verfahren für sich, die ohne eine singuläre Wahrheit auskommen können.

Wie entsteht Wahrheit oder Wirklichkeit?

Die präzisere Frage nach der Wirklichkeit lautet daher: Welche Prozesse sorgen dafür, dass wir das Gefühl haben, etwas sei wirklich oder entspreche der Wirklichkeit? Interessant ist dabei auch die Frage, wie das Bild entsteht, das wir für die Wirklichkeit halten.
Ingenieure können häufig mit der hier vorgestellten Sicht der Dinge wenig anfangen. Ihre natürliche Herangehensweise ist geprägt durch den festen Glauben daran, dass Wirklichkeit objektiv vorliegt und wir sie schlicht zu entdecken haben. Dieser Glaube kann die Sicht auf die Welt stark einschränken, und nur die Besten können sich von diesen Gedankenfesseln lösen. Die herausragenden Vertreter der Ingenieurszunft sind dann zu Innovationen fähig und beurteilen die Wirklichkeit – vielleicht eher unbewusst – aus einer an den Konstruktivismus angelehnten Perspektive.
Ein wesentlicher Bestandteil von Innovation und Voraussetzung für Erfolg ist auch hier: Wir müssen dauernd überprüfen, ob unsere Wirklichkeitskonstruktion eine ausreichende Anschlussfähigkeit und Zieldienlichkeit in Bezug auf andere enthält. Da, wo das nicht stattfindet, ist der Innovator entweder nicht in der Lage, wirtschaftlichen Nutzen aus seiner Erfindung zu ziehen, oder er geht zu radikal vor und wird dann womöglich dauerhaft als "Spinner" betrachtet – und andere machen das Geschäft.

Was ist ein Diskurs-Unternehmen?

Mit diesen Feststellungen sind wir schließlich im Qualitätsmanagement angelangt. Hier hat sich der Konstruktivismus in den letzten Jahren zu einer anerkannten Sichtweise gemausert. Management bedeutet demnach nicht mehr, die Wirklichkeit "richtig" zu sehen und daraus die "richtigen" Schlüsse zu ziehen. Unternehmerische Wirklichkeit entsteht wesentlich im Diskurs – innerhalb des Unternehmens und gemeinsam mit seinen Stakeholdern. Eine Sichtweise, die sich auch im Entwurf der neuen ISO 9001:2015 wiederfindet.
Führungsaufgabe ist es also, diesen Diskurs anzuregen, ihn aufzunehmen, zu steuern, auszuwerten, in Gang zu halten und ihm Gestalt, Raum und einen Rahmen zu geben. Die einfachste Formel für Qualität lautet somit:

PQ := DQ‘
(Produkt-Qualität ist eine direkte Ableitung der Diskurs-Qualität eines Unternehmens.)
Warum soll das so sein? Auf den Punkt gebracht: weil Qualität – wie auch Wahrheit – stark von subjektiver Wahrnehmung abhängig ist. Noch einfacher gesagt: Qualität ist das, was der Kunde als Qualität empfindet. Erst die Qualität des Diskurses, mit dem ein Unternehmen mit seiner Innen- und Umwelt und den Empfindungen der Stakeholder in Kontakt steht, führt auch zu herausragender Produktqualität.

Warum scheitern einfache Wahrheiten?

Eine Antwort auf diese Frage mag ein prominentes Beispiel liefern: die Einführung des iPhones und die Reaktion des damaligen Marktführers für Mobiltelefone. Das komplett neue Bedienkonzept des ersten "Smartphones" war ein gewagter Sprung aus der damals vorherrschenden Wirklichkeitskonstruktion. Eine Zeitreise in das Jahr 2007 führt uns die damalige Einschätzung Nokias vor Augen. In einem Interview zur damals revolutionären Entwicklung stellt der Firmensprecher von Nokia selbstsicher fest [2]: "Wir haben also ein Jahr Vorsprung [vor dem iPhone]!"
Als dieses Gerät 2007 auf den Markt kommt, ist es tatsächlich alles andere als technisch perfekt. Auf diese unvollkommenen technischen Details bezogen hatte der Firmensprecher Recht (und Apple brauchte für die technische Vervollkommnung des iPhones teilweise mehr als ein Jahr). Auf die innovative Benutzerführung angesprochen, antwortet er dann: "Nach der Ankündigung des iPhones werden unsere Ingenieure und Designer noch härter daran arbeiten, neue und bessere Geräte zu entwickeln." Dann spult der Firmensprecher ein eindrucksvolles Zahlenwerk ab, das belegen soll, wie unanfechtbar Nokias Marktstellung ist.
Dieses Beispiel zeigt, dass Nokias Wirklichkeit mit Zahlen beschrieben wird. Das Unternehmen lebte in einer wohl eingeübten, statistischen Exaktheit, die offenbar von einer starken Zahlengläubigkeit geprägt war. Inzwischen ist Nokia bzw. dessen Marktführerschaft Geschichte. Vermutlich auch deshalb, weil es eine Vorstellung von Wirklichkeit hatte, die Sprünge nicht zuließ. Produktqualität wurde als messbare Quantität in ein begrenztes Spektrum von realen Möglichkeiten gepresst. Dieses war zwar gut beherrschbar, konnte aber der neuen Qualität des Apple-Produkts nicht gerecht werden.


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